„Gesetzlichen Änderungen für Menschen mit schwerer Behinderung bereiten uns Sorgen!“

Die beiden Landtagsabgeordneten Bernd Krückel und Thomas Schnelle diskutierten mit Menschen mit Behinderung, Angehörigen, jungen Eltern von Kindern mit Behinderung, Vorstandsmitgliedern und Fachkräften der Lebenshilfe Heinsberg über die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes in NRW und die Folgen für Menschen mit schwerer Behinderung im Kreis Heinsberg.

„Die sozialpolitische Entwicklung hat die Behindertenhilfe in den vergangenen Jahren in vielen Bereichen maßgeblich verändert. Es gibt heute mehr gesellschaftliche Teilhabechancen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Behinderung in Deutschland“, begrüßte Lebenshilfe-Vorsitzender Klaus Meier die Gäste im Lebenshilfe Center in Oberbruch, aber betonte: „Wir betrachten mit Sorge die möglichen Folgen der gesetzlichen Veränderungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit hohem Unterstützungsbedarf.“

Eltern von Kindern mit Behinderung können sich heute für eine inklusive Förderung in Kindertagesstätten oder Schulen entscheiden. Wenn jedoch der Unterstützungsbedarf aufgrund der Behinderung höher sei, stoßen manche Einrichtungen an ihre Grenzen, berichtete Daniela Plum, junge Mutter eines Kindes mit Behinderung. „Die Kita konnte die Betreuung unserer Tochter nicht mehr leisten. Man bat uns, eine alternative Einrichtung zu suchen. Es fiel uns schwer, diese Empfehlung zu akzeptieren. Schließlich haben wir den Kontakt zur Lebenshilfe gesucht. Heute wissen wir, dass das eine gute Lösung war. Jetzt wird unsere Tochter in einer kleinen Gruppe individuell und fachlich gut gefördert.“ Birgit Roye, Leiterin des Geilenkirchener Familienzentrums der Lebenshilfe, stellte fest, dass dies kein Einzelfall sei: „Im vergangen Kitajahr verzeichnete allein unsere Einrichtung 45 Wechselanträge von Kindern mit Behinderung aus Regeleinrichtungen.“ Viele Kindertagesstätten seien im Rahmen ihrer baulichen, personellen und fachlichen Möglichkeiten überfordert, jedes Kind mit Behinderung aufzunehmen und entsprechend fachlich zu fördern.

Zudem seien bestehende spezifische Förderangebote für Kinder mit schwerer Behinderung in Gefahr, so Caroline Sauerwein, Mutter eines Jungen mit Behinderung. „Betrachtet man die aktuelle Lage, dann sorgen wir betroffenen Eltern uns vor allem, dass im politischen Eifer der Teilhabeförderung spezifische Angebote wie Heilpädagogische Gruppen für Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf in manchen Regionen bereits abgeschafft werden. Nicht alle Kinder sind in einer Regeleinrichtungen gut aufgehoben und uns Eltern werden die Wahlmöglichkeiten genommen.“

Eine noch größere Herausforderung liege zurzeit jedoch in der Förderung von Kindern mit Behinderung an Regelschulen in Nordrhein-Westfalen, stellte Lebenshilfe-Geschäftsführer Edgar Johnen fest. Schulkinder mit hohem Unterstützungsbedarf seien beim Besuch einer Regelschule auf eine Schulassistenz angewiesen. Zwar sei diese gesetzlich zugesichert, jedoch werden die fachlichen Grundlagen mit den jeweiligen Jugendämtern oder dem Kreissozialamt individuell ausgehandelt. Da seien unterschiedliche Auslegungen und hohe Verwaltungskosten zur Umsetzung der Verträge unausweichlich. Zudem könne nur der tatsächliche Einsatz des Schulassistenten in Rechnung gestellt werden. „Schulausfall durch Krankheit des Kindes oder Lehrerkonferenzen  werden ebenso wenig refinanziert wie eine in der Regel erforderliche Qualifizierung der Assistenten oder der angemessene Elternaustausch“, erläuterte Fachbereichsleiterin Judith Liebens. Hier sei dringend Verbesserungsbedarf nötig, damit die inklusive Beschulung  in NRW nicht scheitere, so Edgar Johnen. Insbesondere sei eine Zuständigkeitsverlagerung auf den LVR sinnvoll, um einen einheitlichen Standard für Schulassistenz in Bezug auf eine angemessene Vergütung und Qualifizierung der Assistenten zu ermöglichen.

Für erwachsene Menschen mit schwerer Behinderung sei auch die Zukunft im Arbeitsleben seit Einführung des Bundesteilhabegesetzes ungewiss geblieben, fuhr Edgar Johnen fort. „Seit Jahrzehnten haben Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf in Nordrhein-Westfalen die Chance  auf einen Arbeitsplatz in Werkstätten für behinderte Menschen. Die derzeitige Verfahrenspraxis ist im neuen Bundesteilhabegesetz jedoch nicht festgeschrieben.“  Laut Gesetz sei das Recht auf einen Platz im Arbeitsbereich einer Werkstatt gekoppelt an vorausgegangene berufliche Bildung in Zuständigkeit der Agentur für Arbeit. „Wie sieht es in Zukunft für die Menschen mit schwersten Behinderungen aus, die künftig in den Lebenshilfe Werkstätten täglich begleitet und gefördert werden wollen? Verwehrt ihnen die nicht erfolgte Teilnahme an beruflicher Bildung oder das geforderte Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung den Weg in Nordrhein-westfälische Werkstätten?“, fragte Wolfgang Vossen, Leiter Pädagogik der Lebenshilfe Werkstätten. Die Tatsache, dass bislang jeder Mensch unabhängig von der Art und Schwere seiner Behinderung einen Arbeitsplatz in den Lebenshilfe Werkstätten erhalten habe, sei Ausdruck gelebter Inklusion.

Ebenso ungewiss sei die wohnliche Zukunft für Menschen mit schwerer Behinderung, betonte Christoph Cremers, Leiter des Wohnbereiches der Lebenshilfe. Die Finanzierung eines stationären Wohnplatzes im Rahmen der Eingliederungshilfe stagniere strukturell seit Jahren. Gleichzeitig steigen die infrastrukturellen Anforderungen an Wohneinrichtungen im Hinblick auf Fachkräfteschulungen, wachsender Pflegeversorgung und Auflagen wie Brandsicherheitskonzepte. Diese steigenden Erwartungen an Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe werden nicht refinanziert und können derzeit nur durch finanzielle Hilfen der Lebenshilfe Heinsberg abgedeckt werden. „Die Vergütung des Hilfebedarfes muss an die tatsächlichen Anforderungen angepasst werden“, forderte Christoph Cremers.  Zudem brauche es dringend neue Anreize, um den wachsenden Bedarf an barrierefreiem, bezahlbarem Wohnraum gerecht zu werden.

Thomas Schnelle und Bernd Krückel zeigten sich bewegt von den persönlichen Schilderungen und fachlichen Ausführungen. „Wir müssen im engen Austausch bleiben und versprechen, die aktuellen gesetzlichen Entwicklungen mit Ihnen gemeinsam genau zu verfolgen, damit wir vor allem Menschen mit schwerer Behinderung nicht aus den Augen verlieren“, versprach Bernd Krückel den Vertretern der Lebenshilfe Heinsberg.