Mindestlohn in Werkstätten für Menschen mit Behinderung?
„Mindestlohn in Werkstätten!“ fordert der Youtuber Lukas Krämer aktuell in einer Petition auf change.org. Die Mitglieder des Werkstattrates der Lebenshilfe Heinsberg können damit wenig anfangen: „Bei solchen Aussagen werde ich richtig wütend, Lukas Krämer versteht den Auftrag der Werkstätten und die Konsequenzen seiner Forderung nicht“, sagt Pascal Simons (Bild links) vom Werkstattrat.
Pascal Simons hat die gleiche Erkrankung wie Lukas Krämer, jedoch hat er selbst Erfahrungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gemacht und kennt die Unterschiede: „Mit dem Druck, der draußen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt herrscht, konnte ich nicht umgehen.“ Seine Anstellung in einem Logistikunternehmen beendete er nach acht Monaten und arbeitet seitdem in den Werkstätten der Lebenshilfe Heinsberg: „Da merkt man erstmal, wie wichtig das Arbeitsangebot der Werkstätten ist. Ich weiß das sehr zu schätzen.“
Mindestlohn muss dann auch erwirtschaftet werden
Die Einführung eines Mindestlohnes müsste zwangsläufig dazu führen, dass dieser auch erwirtschaftet wird: Bei 1100 Mitarbeitern wären das rund 20 Millionen Euro jährlich. Jedoch haben die Lebenshilfe Werkstätten 2020 rund 1,8 Millionen Euro Gewinn erzielt, also ein Zehntel. Pascal Simons rechnet vor: „Dann müssten wir ja die Produktion verzehnfachen und alles würde sich nur noch um Arbeiten, Arbeiten, Arbeiten drehen. Wer soll denn diesem Druck Stand halten? Hätten wir dann noch Zeit für all die anderen Dinge wie Lese-, Computer-, Tanz- oder Musikangebote unserer Werkstatt?“ Seine Kollegin vom Werkstattrat, Katja Mackowiak (Bild), sorgt sich vor allem um die rund 450 Mitarbeiter mit schwerer Behinderung: „Was würde denn mit den Leuten passieren, die sich aufgrund ihrer Behinderung nur wenig an der Produktion beteiligen können? Gäbe es für diese Menschen dann keinen Platz mehr in der Werkstatt?“
Pascal Simons und Katja Mackowiak haben eine klare Botschaft an Aktivist Lukas Krämer: „Wer so einen Quatsch fordert, der sollte genau wissen, was eine Werkstatt ist, welche wichtige gesellschaftliche Aufgabe sie hat und welche Konsequenzen so eine Petition mit sich bringen kann. Wir wollen das nicht. Und unsere Stimmen sollte man auch hören!“
Vergleich: Entgelt in Werkstätten oder Mindestlohn
In einer Gegenüberstellung der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen e.V. (BAG WfbM) wird deutlich, dass alle Leistungen, die Werkstattmitarbeiter insgesamt erhalten, ungefähr dem Mindestlohn-Einkommen einer 35-Stunden-Woche entsprechen. Ein wichtiger Unterschied: Mitarbeiter der Werkstätten erhalten heute eine rund doppelt so hohe Rentenanwartschaft (0,8 gegenüber 0,45 Punkten bei Mindestlohn) und damit einen Rentenanspruch nach 45 Jahren auf 1297 gegenüber 628 bei Mindestlohn. Stand + Quelle: BAG WfbM 2017
Finanzierung der Werkstätten
In Deutschland arbeiten 320.000 Menschen mit Behinderung in Werkstätten. Diese Einrichtungen haben einen klar definierten Rehabilitationsauftrag, der im neunten Sozialgesetzbuch festgeschrieben ist: Menschen mit Behinderung erhalten eine berufliche Förderung und die Chance, am Arbeitsleben teil zu nehmen. Dafür bieten Werkstätten ein breites Angebot unterschiedlicher Arbeitsschwerpunkte. Werkstätten kooperieren mit vielen Unternehmen in der Region, vermitteln Praktika oder organisieren Betriebsintegrierte Arbeitsplätze. Menschen mit Behinderung schaffen so auch den Weg (zurück) auf den allgemeinen Arbeitsmarkt.
Werkstätten erhalten Geld vom Staat, um damit die Fachkräfte zur Arbeits- und Berufsförderung, Energiekosten oder Fahrdienste der Mitarbeiter sowie Sozialversicherungsbeiträge zu finanzieren. Aus den Erlösen der Produktion der Werkstätten werden die Löhne der Mitarbeiter mit Behinderung finanziert: mindestens 70% des Produktionsgewinns. Der Rest wird zurückgelegt oder in neue Maschinen und Werkzeuge investiert. In Nordrhein-Westfalen haben auch Menschen mit schwerster Behinderung die Möglichkeit, in einer Werkstatt zu arbeiten. Da die Löhne „solidarisch“ ausgezahlt werden, erhält jeder Mitarbeiter einen Lohn, auch wenn er aufgrund seiner Behinderung kaum an der Produktion beteiligt ist. „Das hat aber nichts mit einem Stundenlohn zu tun“, so Pascal Simons. Neben dem Lohn erhalten die Mitarbeiter eine umfangreiche Grundsicherung und Sozialversicherungsleistungen, um ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Werkstätten-Mitarbeiter mit Behinderung haben ein arbeitnehmerähnliches Arbeitsverhältnis: Sie haben viele Arbeitnehmer-Rechte wie Urlaubsanspruch oder Mutterschutz. Jedoch haben sie nicht die Leistungsverpflichtungen oder den Produktionsdruck, wie sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblich sind. Sie können nicht abgemahnt oder gekündigt werden.
Werkstattleistung erzeugt finanzielle Mehrwerte
Die finanzielle Wertschöpfung, der Social Return on Investment, lässt sich berechnen, in dem die Investitionen in Bezug zu den sozialen Wirkungen und wirtschaftlichen Effekten gesetzt werden.
SROI 1: Werkstattleistungen kosten weniger als die Hälfte
Werkstattunternehmen führen Steuern, Sozialversicherungsbeiträge und Solidaritätsbeiträge ab, die an die öffentliche Hand zurückfließen. Zieht man diese von den Investitionen der öffentlichen Hand ab, kosten soziale Dienstleistungen unterm Strich weniger als es zunächst scheint. Ein Ergebnis der Studie ist:
Von 100 Euro, die die öffentlichen Haushalte für die Werkstätten ausgeben, nehmen sie 51 Euro über Sozialabgaben direkt wieder ein.
SROI 2: Werkstattbeschäftigte sind aktive Gesellschaftsmitglieder
Werkstattbeschäftigte geben viel an die Gesellschaft zurück. Sie sind ein aktiver Part im Wirtschaftskreislauf und können einen Teil ihres Lebensunterhaltes selbst erwirtschaften. So werden Leistungsbezieher durch die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu Steuer- und Beitragszahlern.
Von 100 Euro Transferleistungen, die die Werkstattbeschäftigten erhalten, zahlen sie im Schnitt 69 Euro an die öffentlichen Kassen zurück.
SROI 4: Werkstattunternehmen sind Wirtschaftsfaktoren
Werkstätten und ihre Beschäftigten kaufen Waren und beziehen Dienstleistungen. So schaffen sie direkte Nachfrage in der Region.
Hochgerechnet erzeugen Werkstätten bundesweit eine direkte Nachfrage von rund 2,7 Milliarden Euro.
Das Werkstättennetz schafft Arbeitsplätze in den Regionen. 300.000 Menschen mit Behinderung und 70.000 Fachangestellte sind direkt bei Werkstattunternehmen beschäftigt.
Werkstätten generieren Einkommen in Höhe von 3 Milliarden Euro.
Da die Mitarbeiter und Beschäftigten einen Teil ihres Einkommens in der Region ausgeben, wird die Wirtschaft in der Region angekurbelt, es wird eine indirekte Nachfrage hervorgerufen.
Durch die wirtschaftliche Tätigkeit von Werkstätten entsteht eine induzierte Nachfrage in Höhe von 6 Milliarden Euro.
Daran hängen Arbeitsplätze in Höhe von rund 7 Milliarden Euro (Bruttolöhne).
Für die öffentliche Hand bedeutet dies Einnahmen in Höhe von knapp 6 Milliarden Euro.
Werkstattunternehmen sind Wirtschaftsfaktoren. Sie sind Zulieferer für die Industrie und halten Aufträge in der Region, die ohne die flexible, ortsnahe und qualitativ hochwertige Leistung der Werkstätten ins Ausland ausgelagert würden.
SROI 3: Rechtsanspruch auf Teilhabe am Arbeitsleben kommt Gesellschaft günstiger
Die Studie berechnet auch, welche Kosten entstehen würden, wenn es das Werkstattangebot nicht gäbe (SROI 3). Zum Vergleich:
Ein Werkstattplatz kostet die öffentliche Hand nach Abzug der erhaltenen Einnahmen aus Steuern und Beiträgen im Schnitt 9.980 Euro pro Jahr.
Würden die Beschäftigten zu Hause bleiben und auf Teilhabe am Arbeitsleben verzichten, entstehen Betreuungskosten von durchschnittlich 10.390 Euro pro Person.
Das heißt: Gäbe es die gesetzliche Leistung der Teilhabe am Arbeitsleben nicht, käme es die öffentliche Hand letztendlich teurer. Einzubeziehen sind auch die fehlenden Einnahmen:
Wenn die Betreuung und Unterstützungsleistungen von den Familien erbracht werden, können diese nicht oder nur eingeschränkt erwerbstätig sein. Dadurch entfallen Steuern und Beiträge aus Bruttolöhnen von rund 2 Milliarden Euro.
Unterm Strich – ein deutliches Plus für die Gesellschaft
Die Teilhabeangebote der Werkstätten für behinderte Menschen sind in mehrfacher Hinsicht wertschöpfend. Sie verbinden Sozialleistungen und wirtschaftliche Produktivität zu einem Kreislauf. Werkstätten befähigen Menschen mit Behinderung, aktiver Teil der Gemeinschaft zu sein. Die dafür notwendigen Sozialinvestitionen müssen in Relation zu ihren Wirkungen und Rückflüssen betrachtet werden.
51 Prozent der investierten Mittel fließen direkt an die öffentliche Hand zurück.
Insgesamt verschaffen Werkstätten der öffentlichen Hand Einnahmen und Einsparungen in Höhe von 2,9 Milliarden Euro im Vergleich zu Investitionen in Höhe von 5,6 Milliarden Euro (Hochrechnung).
Werkstätten schaffen Arbeitsplätze und kurbeln direkt und indirekt über hervorgerufene Nachfrage die Wirtschaft an.
Die Teilhabeangebote von Werkstätten verbessern die Lebensqualität von behinderten Menschen, die Unterstützung im Arbeitsleben brauchen und sie fördern die Wohlfahrt der gesamten Gesellschaft.